Das Interview mit dem Fotografen Hartmut Schneider führte Frank Überall.

Herr Schneider, seit Jahren dokumentieren Sie fotografisch Aufmärsche und Veranstaltungen von Neonazis – zu journalistischen, aber auch zu Dokumentationszwecken. Warum verbringen Sie so viel Zeit auf solchen Veranstaltungen, auch wenn Sie daran meist kein Geld verdienen?

Dazu zunächst eine Vorbemerkung: Ich sehe mich nicht als Journalist, sondern als Fotograf, der Zeiterscheinungen subjektiv dokumentiert und ordne mich daher eher der künstlerischen Fotografie zu. Spontan würde ich antworten, das frage ich mich auch oft, weil diese Veranstaltungen anstrengend, gefährlich und frustrierend sind. Der Grund ist, dass ich es nicht aushalten kann, nichts gegen die aus meiner Sicht zunehmende Rechtsdrift in unserem Land zu unternehmen. Ich will nicht zu einer „schweigenden“ Mehrheit gehören, sondern etwas tun, was in meinen Kräften steht. Die Veröffentlichung meiner Dokumentationen findet große Resonanz und sie sind hoffentlich ein kleiner Beitrag zur Aufklärung, wer diese Rechtsextremisten sind und was von ihnen zu erwarten ist.

Sie haben darüber berichtet, dass die Polizei in Nordrhein-Westfalen aus Ihrer Sicht oft eine falsche Strategie hat. Deeskalation habe immer oberste Priorität – was ist daran falsch?

Natürlich bin ich prinzipiell auch für Deeskalation. Im Zusammenhang mit den Demonstrationen habe ich allerdings die Erfahrung gemacht, dass gegenüber den Rechtsextremisten Deeskalation die falsche Taktik ist. Dazu einige Überlegungen, die aus meiner persönlichen Erfahrung und Beobachtung bei Kundgebungen, Demos und Gerichtsverhandlungen resultieren. Man muss verstehen, dass die Rechtsextremisten glauben, sich in einem Kampf zur Rettung des deutschen Volkes zu befinden, der in ihren Augen Putativnotwehr und damit jede Form von Gewalt rechtfertigt. Verurteilungen, aber auch überstandene gewalttätige Auseinandersetzungen und Blessuren gelten als Statussymbol. Sie empfinden sich als Märtyrer für die richtige Sache. Bewährungsstrafen und milde Urteile werden als Beweis für den unfähigen und schwachen Staat gesehen und gelten als weiterer Beweis für die Verkommenheit des „Systems“. Demonstrationen sind Teil dieses „Kampfes“ gegen Antifa, die „rot-grün-versiffte“ Gesellschaft und die „Büttel“ dieses Systems, die Polizei.
Systematisch werden bei diesen Auftritten und Demos Konfliktsituationen provoziert und die Reaktion der Polizei „getestet.“ In der Regel sind das die Verletzungen der Versammlungsauflagen wie Vermummungen, Alkoholkonsum, das Zeigen verbotener Fahnen und Symbole, Hitlergrüße.

Wer sich wie ich mitten in diesen Veranstaltungen bewegt, sieht deutlich, wie diese nicht geahndeten Verstöße als kleine Siege gefeiert werden und dann zu einer Eskalation im Sinne der „Machtergreifung“ für diese Veranstaltung führen. Das bisher krasseste Beispiel war die Hogesa-Demonstration am 26.10. 2014.
Es gab einen für die Kundgebung abgesperrten Bereich auf dem Breslauer Platz. Freigehalten werden sollte ein breiter Streifen zwischen Hauptbahnhof und Kundgebung (mit Flatterband markiert statt mit Absperrgittern getrennt) für den ungestörten Zugang Reisender zum Bahnhof und als Sicherheitszone. Die Polizei versuchte diesen Bereich zunächst über längere Zeit durch Lautsprecherdurchsagen freizuhalten, was aber misslang. Ebenfalls scheiterte der halbherzige Versuch einer persönlichen  Ansprache der Personen. Schließlich wurde der Platz von Hunderten von Rechtsradikalen übernommen und die Polizei zog sich zurück. Der damit ungehinderte Zugang zum Bahnhof wurde massiv zur Versorgung mit alkoholischen Getränken genutzt (die später zu Wurfgeschossen wurden), was natürlich den Auflagen der Versammlung widersprach. Es war deutlich zu sehen, dass die Versammlungsteilnehmer ihren „Sieg“ gegenüber der Polizei genossen, was sich auch in weiteren Verletzungen der Auflagen zeigte. Zunehmend wurden provozierend in Polizeinähe Vermummungen angelegt und auch die Hitlergrüße nahmen zu. Der weitere Verlauf der Demonstration verlief ähnlich. Teilweise floh die Polizei vor den Rechtsextremisten, und es gab auf der Turiner Str. längere polizeifreie Strecken, auf denen der Mob randalierte.
Höhepunkt war dann das Umwerfen des Polizeifahrzeugs, was als endgültiger Sieg über die Polizei (mit Selfies in Siegerpose) gefeiert wurde. Ein anderes Beispiel: Kögida am 14.01.2015. Ein bekannter Kölner Neonazi behindert und bedroht fortlaufend Fotografen und Kameraleute. Bis auf milde Ermahnungen durch die Polizei  keine Konsequenz. Nach meiner Überzeugung wäre es notwendig, von Beginn an konsequent die Einhaltung der Auflagen durchzusetzen, wie auch schon vor Beginn Passierstellen mit Zelten einzurichten, die Durchsuchungen der Teilnehmer ermöglichen, was in Köln eher selten geschieht.

Teilnehmer rechter bzw. rechtsextremer Demonstrationen greifen häufig Medienvertreter an – auch das haben Sie mehrfach dokumentiert. Was passiert in solchen Situationen? Standard ist das Verdecken der Kameraobjektive, Anrempeln, Drohungen (die letzte, die ich kürzlich in Dortmund erhielt, wurde dreifach wiederholt: „Wenn der Bulle nicht hier wär, würde ich dich aufknüpfen.“), oder auch Hinweise wie: „Wir kriegen dich“ verbunden mit Fotoaufnahmen. Das alles geschieht in der Regel unmittelbar vor den Augen der Polizei. Versuche, die Polizei zum Eingreifen zu bewegen, scheitern fast immer.

Bei der Veranstaltung der Partei „Die Rechte“ am 04.06.2016 versuchten die Rechtsextremisten zeitweise erfolgreich, mit Regenschirmen die Arbeit der Journalisten zu unterbinden. Diese wurden allerdings nicht passiv als Sichtschutz genutzt, sondern es wurden einzelne Fotografen umringt und auch mit den Schirmspitzen traktiert. Das geschah unmittelbar vor den Augen der Polizei, in einer Entfernung von 1 bis 5 Metern.
Zahlreiche Proteste der Fotografen und Kameraleute führten zu gelegentlichen Hinweisen eines Polizeibeamten an die Rechtsextremisten, damit aufzuhören. Mir persönlich wurde von diesem Beamten, wohl ein Abschnittsleiter, geraten, nicht durch mein Fotografieren zu provozieren und mir doch Lücken zu suchen, wenn ich gestört würde. Nachdem ich ihm mehrfach vorführte, dass ich sofort wieder angegriffen wurde, wenn ich meine Position wechselte, informierte er die Einsatzleitung und führte mich zu einem leitenden Polizeibeamten.

Sie haben in Dortmund einen verantwortlichen Polizisten konkret angesprochen. Wie hat er die Zurückhaltung gerechtfertigt?

Zunächst wurde mir von einem Abschnittsleiter immer wieder gesagt, die Einsatzleitung weiß Bescheid, es wird überlegt, was man machen kann. Wie beschrieben, führte mich dieser Beamte zu einem verantwortlichen Einsatzleiter. Auf meine Forderung, die Arbeit der Fotografen und Kameraleute zu gewährleisten sagte er mir: „Wenn wir eingreifen, eskaliert das“ und weiter meinte er, Demonstrationsrecht und Pressefreiheit seien gleichwertige Güter und es bedürfe jeweils einer Abwägung, ob man Pressefreiheit garantieren könne. Er betonte dann noch, die Polizei sei zur Neutralität verpflichtet. An diesem Tag waren nach meiner Information 4700 Polizeibeamte im Einsatz, die Zahl der Rechtsextremisten wurde auf knapp 1000 geschätzt und es gab ca. 10 Leute, die mit ihren Schirmen die Presse behinderten.

Hat er erläutert, woher solche Vorgaben kommen?

Er bezog sich ausdrücklich auf die zentrale Einsatzleitung, an deren Weisungen er gebunden sei.

Was muss sich aus Ihrer Sicht ändern, damit Journalistinnen und Journalisten in solchen Situationen ihrer Arbeit wieder anständig nachgehen können?

Nach meiner Überzeugung muss von Anfang an die Durchsetzung der Versammlungsauflagen gesichert werden. An dieser Stelle bewirkt das Prinzip der Deeskalation die psychologische Stärkung der potenziellen Gewalttäter, weil die beschriebenen „kleinen Siege“ sie aufbauen und ihnen das vermitteln, was vermutlich ihre stärkste Droge ist, nämlich das Gefühl im Besitz der Macht zu sein.

Weiterhin ist es notwendig, Platzverweise durchzusetzen. Selbst bei namentlich bekannten, eindeutig identifizierten Tätern, die die Presse bedrohen und behindern, werden Ermahnungen ohne jede Konsequenz ausgesprochen.

Ich habe in meiner langen Tätigkeit noch nie beobachtet, dass ein rechtsextremistischer Störer einen Platzverweis erhielt. Dagegen werden mir regelmäßig Platzverweise angedroht, weil ich angeblich die Arbeit der Polizei störe. Zuletzt geschah das völlig grundlos bei der Junidemo im Dortmunder Hauptbahnhof.

Darüber hinaus erscheint mir wichtig, dass die Polizeibeamten so geschult werden, dass sie die Pressefreiheit nicht als lästige Begleiterscheinung sehen. Ein Indiz für die Mängel in diesem Bereich ist auch die Tatsache, dass junge Bereitschaftskräfte immer wieder das Fotografieren von Rechtsextremisten verbieten mit der Begründung des Rechtes am eigenen Bild.

Website: hartmutschneider.de